Festpredigt

13.05.2015 – In seiner Predigt im Festgottesdienst des Pankratiustages 2015 betont Dompropst Joachim Göbel, dass es Mut brauche, selbstbewusst und neugierig auf andere Menschen und ihr Denken und Glauben zuzugehen. Dafür sei ein Forum, ein Ort des offenen Austausches zwischen Sicheren und Suchenden, zwischen Fragenden und Zweifelnden, zwischen Mutigen und Zögernden nötig. Durch das neu eröffnete Forum St. Pankratius werde das Anliegen der Pfarrei St. Aloysius und des Pastoralverbundes Iserlohn, sich für die gegenwärtige Zeit zu öffnen, architektonisch umgesetzt.

Liebe Schwestern und Brüder!

Ihr neues Pfarrheim trägt den Namen einer mehr als 2000 Jahre alten Platzanlage in Rom. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mit verschiedenen Gruppen durch dieses Forum gegangen bin. Die Erwartungen sind immer groß. Wenn man dort ist, sieht man Trümmer, Säulen, einige Gebäude und viele viele Steine. Nur schwer kann man sich in der Phantasie ausmalen, welche Bedeutung diese Anlage für die Römer hatte. Es war der Ort für alle wichtigen und unwichtigen Geschäfte, der Ort wo man sich traf, wo man alles kaufen, alles erfahren, alle sehen konnte, der Ort politischer Entscheidungen, dramatischer Vorfälle, der Ort uralter Mythen und Geschichten.
Dort fanden Gerichtsverhandlungen und Geschäftsbesprechungen, Volksversammlungen, Wahlen und Abstimmungen statt. Man nennt es auch „des Reiches Plauderbühne“, die Gerüchteküche. Hier bekam man die brandneuen Indiskretionen des stadtrömischen Jetsets serviert, alle Klatsch- und Tratschgeschichten.
Händler, Halsabschneider, Possenreißer und Bettler suchten die Aufmerksamkeit des Publikums. Selbsternannte Wunderheiler, Neugierige, Nichtstuer, Taugenichtse und Pflastertreter lungerten herum. Nicht zu vergessen die Würfelspieler!
Es ging also bei den Gesprächen nicht nur um Politik, Philosophie oder Redekunst. Man redete über Gesundheit und das Wetter, Skandale und Klatschgeschichten, neue Theaterstücke, die Kämpfe in den verschiedenen Arenen. Man unterhielt sich über die Kampftaktiken der Gladiatoren und die Frauen tuschelten über deren athletische Figur.
Man suchte dort Entspannung in den großen Badeanlagen, hörte Rednern zu, besuchte religiöse Feiern, nahm eine kleine Mahlzeit ein. Händler, Friseure, Wirte und Prostituierte machten ihr Geschäft. „Einen tobenden Hexenkessel“ nennt es ein Schriftsteller.
Ich bin mir sehr sicher, dass Sie mit dem neuen Pfarrheim weder „Iserlohns Plauderbühne“ noch einen „tobenden Hexenkessel“ schaffen wollen. Was Sie wollen, ist ein „offener Platz“, einen Raum für Austausch, verschiedene Meinungen, unterschiedliche Sichtweisen, Sie wollen eine Bühne schaffen, in der möglichst viele Gruppen, Initiativen und Projekte miteinander ins Gespräch und in die Auseinandersetzung kommen. Schon die Architektur weist ja eindrucksvoll darauf hin!
Das klingt etwas anders als „Pfarrheim“. Sicher soll die Pfarrei Heimat bieten – aber sie soll nicht heimelig, nur gemütlich oder für Außenstehende gar „unheimlich“ sein. Aber der Name „Forum“ deutet an: wir öffnen uns, holen den Alltag in die Kirche.
Das römische Forum war bunter Alltag. Alltag ist das, das, womit wir tagtäglich zu tun haben, was uns in unserer Stadt begegnet. Wir treffen unterschiedliche Menschen, kaufen ein, gehen zur Arbeit, zur Schule, gehen einfach so spazieren, hören oder sehen etwas Neues.
Hier versuchen wir auch unseren Glauben zu leben – im Alltag, auf dem großen Markt der Möglichkeiten. Und das wird immer anspruchsvoller. Denn längst stehen auf diesem Forum, wie einst im alten Rom, die unterschiedlichsten Tempel, in denen man Sinn, Heil, einen Glauben, eine Orientierung finden kann. Wir sind ein Angebot unter vielen!
Sicher ist es so, dass in vielen Städten noch die Kirchen die Dominanten sind. Aber das täuscht, ist nur äußerlich. Die größte „Konfession“, die größte „Kirche“ in unserem Land sind längst die Nichtchristen: Ungetaufte, Konfessionslose, Menschen anderer Religionen.
Dazu kommen die Getauften, die noch Kirchenmitglied sind, aber längst so weit weg sind vom Christentum wie andere, die nie getauft wurden.
Das griechische Pendant zum römischen Forum ist die Agora in Athen, der Ort, wo schon Paulus gepredigt hat. Dieser Ort hatte dieselbe Aufgabe und Funktion, wie der römische Platz. Interessanterweise gab die „Agora“ aber auch einer Form der krankhaften Angst den Namen: Agoraphobie – die Angst vor großen Plätzen.
Menschen, die darunter leider, können keine Plätze überqueren. Sie gehen am Rand entlang, um auf die andere Seite zu gelangen. Eine unangenehme Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens, meist eine kaum bemerkte.
Wie kann das sein, dass man Angst hat, über einen großen Platz zu gehen? Dass man meint, man würde ohnmächtig, müsse weglaufen und bekommt alle körperlichen Anzeichen von großer Angst?
Vielleicht, weil man auf so einem großen Platz keine Fixpunkte mehr in der Nähe hat, nichts mehr, woran man seinen eigenen Standpunkt bestimmen kann. Alles Feste und Stabile ist so weit in die Ferne gerückt, dass ich plötzlich keinen Ort mehr habe, ich kann mich nirgendwo mehr festmachen. Das ist mehr als unangenehm, es ist bedrohlich.
Agoraphobie ist im übertragenen Sinn eine Angst, die man unter vielen Christen antreffen kann. Sie fühlen sich plötzlich so fremd, so orientierungslos, dass sie sich nicht mehr auf die großen Plätze, trauen, das Forum meiden, auf dem Markt der Möglichkeiten orientierungslos und handlungsunfähig werden. Es fehlen plötzlich die vertrauten Fixpunkte, die vertrauten Denkmuster, die vertrauten Mitchristen.
Woran soll man sich noch halten? Was gibt noch Sicherheit, wenn alles möglich ist?
Sich zurückziehen und zuhause zu bleiben ist die natürliche Reaktion. Man bleibt unter sich, setzt sich keiner Gefahr aus.
Hinzu kommt noch die Schwächung aus dem eigenen Haus: die Missbrauchsskandale, die Vorgänge in Limburg – um nur zwei Beispiele zu nennen – haben nicht gerade unser Selbstbewusstsein gestärkt.
Wenn wir dann in der Öffentlichkeit, unseren Glauben bekennen, dann ernten wir noch weit schlimmere Wörter als Paulus auf der Agora, den man einen „Schwätzer“ nennt! Da bleiben wir doch lieber unter uns, das ist sicherer!
Das ist zu allen Zeiten die große Gefahr für die Christen, für das Evangelium gewesen: unter sich bleiben! Ein Ofen, der sich selber wärmt und sich weigert, Wärme abzugeben.
Es braucht Mut, aber vor allem braucht es Orientierung, einen festen Punkt, der Sicherheit gibt, um selbstbewusst, neugierig auf andere Menschen und ihr Denken und Glauben auf den Markt zu gehen! Es braucht Mut, nicht nur ein Heim, sondern auch ein Forum, einen Ort des offenen Austausches zwischen Sicheren und Suchenden, zwischen Fragenden und Zweifelnden, zwischen Mutigen und Zögernden zu schaffen.
Das gilt auch unter uns, die wir Gemeinde leben und gestalten. Wir fühlen und denken ja längst wie die „Welt“, alle Unsicherheiten und Zweifel haben in unseren Herzen eine feste Heimat.
Wie geht es mit den Gemeinden weiter? Wie kann man Kirche in großen Verbünden leben? Wie beantworten wir die Frage, die am Anfang des Zukunftsbildes stand und immer neu herausfordert: Wozu bist du da, Kirche von Paderborn? Wozu bist du da, Kirche von Iserlohn?
Die Antwort hat niemand in der Tasche, die muss gesucht, von Gott erbeten und vom heiligen Geist geweckt werden. Und der Geist Gottes wirkt oft mitten in der Auseinandersetzung, bisweilen sogar im Streit, im Ringen um die richtige Antwort. Deshalb müssen all diese Fragen vor allem von Ihnen hier am Ort beantwortet werden. Und die Antwort muss man dann leben.
Die große Richtung für alle gibt Jesus im Evangelium vor: gelebt werden muss die Freundschaft mit ihm und die Liebe zu den Menschen. Wenn Sie einen ehrlichen Austausch darüber beginnen, was das für Sie persönlich heißt, wenn Sie sich mit Ihrer eigenen Antwort auf das Forum trauen, dann werden Sie wohl merken, wie bunt und unterschiedlich die Kirche ist und wie viel Kraft und wie viele Möglichkeiten in dieser Buntheit verborgen sind.
Was mich am heiligen Pankratius am meisten fasziniert hat: er war 14 Jahre alt! Wie stark macht Gott die Jungen, die Kleinen, die Alten, die vermeintlich Schwachen der Gesellschaft!
Wir müssen damit aufhören, uns selber klein zu reden und zu meinen, früher war dann doch alles besser. Ob Pankratius seine Lage als „besser“ empfunden hätte? Sie war anders, war so, dass wir sie uns nicht wünschen wollen. Unsere Herausforderung ist nicht die Verfolgung. Unsere Herausforderungen sind die Gleichgültigkeit und das allgemeine Gefühl, Christen seien auch nicht anders als alle anderen.
Was braucht man in Zeiten der Herausforderung? Einen guten Freund, der einem zur Seite steht. Die Zusage Jesu jedenfalls steht. Keine Angst vor dem Forum, keine Angst vor den großen Plätzen, vor dem Markt der Möglichkeiten. Bevor wir uns nämlich hinaus trauen, da ist – welch schöne Überraschung! – unser Freund schon längst da.

(Joachim Göbel, Dompropst in Paderborn)